Text des Diakoniegottesdienstes 2017

Liebe Gemeinde
Seit vielen Jahren, ja seit Jahrhunderten steht hier in der St. Pankratius Kirche eine dicke, schwere Eichentruhe.
Was hat es damit auf sich?
In diesem Gottesdienst wollen wir der Frage auf den Grund gehen.
Dazu begeben wir uns auf eine Zeitreise.
Wir reisen in das Jahr 1512 – damals suchten die Menschen die Kirche häufiger aus als heute.
Aus unterschiedlichen Gründen.
Schauen wir mal, was sich da so vor St. Pankratius zutrug.


Szene 1: 1512
Auf den Stufen zum Chorraum sitzt eine Gestalt in Lumpen und hebt die Hand mit einer Schale.
Glockengeläut (vom Band). Zwei gut gekleidete Personen kommen aus dem hinteren Chorraum an der Gestalt vorbei.
A: „Willst du nichts geben?“
B: „Er kann doch zu den Beginen gehen – da gibt es doch Suppe und Brot für die Armen!“
A: „Ja, schon. Aber: es geht doch auch um dich!“
B: „Um mich? Wie meist du das?“
A: „Du darfst nicht immer nur an die Gegenwart denken. Du musst auch in die Zukunft blicken – und ich meine die Zukunft jenseits dieser Welt.“
B: „Du meinst den Himmel – das Paradies?“
A: „Genau! Wie willst du später mal dastehen, wenn man dich fragt, was du im Leben gemacht hast? Hast du genug Gutes getan, um ins Paradies zu kommen?“
B: „Hm. Und du meinst, diesem Bettler hier etwas zu geben, hilft mir dazu später ins Paradies zu kommen?“
A: „Es reicht nicht, nur einmal etwas zu geben. Nicht umsonst stehen so viele Bettler nach der Messe vor der Kirche. Sie geben uns Gelegenheit, etwas für unser Seelenheil zu tun. Du solltest lieber auch etwas tun!“
B (öffnet seinen Geldbeutel und holt eine Münze heraus): „Auf dass es mir dereinst einmal nützen möge!“


Ja, so war das damals.
Es gab Reiche und Arme.
Und die Reichen haben für die Armen gesorgt – mit Almosen.
So hatten die einen hier auf Erden ein Auskommen und die anderen konnten auf einen guten Platz im Himmelreich hoffen, wegen des guten Werkes, das sie an den Armen taten.
Das hat den Armen eine gewisse Würde gegeben – sie konnten sich selber verstehen als Helfer zum Heil der anderen.
Aber dann kam das Jahr 1517.
Martin Luther machte öffentlich, was ihn schon lange bewegte.
Wir müssen uns das Himmelreich nicht verdienen.
Gott schenkt es uns aus seiner Liebe heraus, nicht wegen unserer eigenen Leistungen.
Gute Werke sind nicht mehr der Eintrittspreis für das Paradies.
Es hat etwas gedauert, bis sich diese Gedanken auch hier in unserer Gegend damals durchgesetzt hatten.
Wir sind im Jahr 1542 – Bockenem ist nun auch evangelisch geworden.
Die Menschen genießen die neu gewonnene Freiheit – man muss nicht mehr mit Furcht und Angst sich um sein ewiges Heil sorgen, sondern man kann befreit im Diesseits aufatmen.
Aber so ganz ohne Probleme war das nun wieder auch nicht.


Szene 2: 1542
Zwei Bettler vor der Kirche halten ihre Schalen hoch. Unter Glockengeläut gehen die Besucher*innen tatenlos vorüber.
Bettler 1: „Schon wieder nichts!“
Bettler 2: „Was soll bloß aus uns werden?“
B1: „Seitdem die neue Lehre bei uns gepredigt wird, haben die Leute kein Herz mehr!“
B2: „Nee, sie haben keine Angst mehr. Die neue Lehre sagt doch, dass man ins Paradies auch ohne gute Werke hineinkommt, man muss es sich nicht mehr verdienen. Und deswegen haben die Leute keine Angst mehr vor Fegefeuer und Hölle.“
B1: „Ja, und deswegen haben sie kein Herz mehr für uns und geben uns nichts. Und bei den Beginen ist auch nichts mehr zu holen – die sind fortgezogen. Wo sollen wir jetzt Suppe und Brot bekommen?“
B2: „Manchmal wünsch ich mir unseren alten Priester zurück – der hat den Menschen ordentlich ins Gewissen geredet, dass sie sich um ihr Seelenheil kümmern müssen. Da konnten wir dann einigermaßen leben. Aber jetzt…“
Zwei Kirchenvorsteher kommen daher.
K1: „Das geht so nicht weiter! Wir kommen ja in ein ganz schlechtes Licht! Wenn die Armen uns verfluchen, dann verlieren wir das Ansehen. Dann wünschen sich die Leute tatsächlich wieder die alten Zeiten zurück“.
K2: „Das Ansehen ist das eine, das andere ist die Not bzw. die Menschen in ihrer Not. Um die Menschen geht es. Ihnen muss geholfen werden!“
K1: „Aber wie? Einfach nur Almosen geben? Dann ändert sich ja nichts an ihrer Not. Dann bleiben sie abhängig vom Mitleid der Reichen“.
K2: „Ein durchreisender Kaufmann hat neulich im Gasthof erzählt, dass sie in Leisnig eine neue Kirchenordnung aufgestellt haben“.
K1: „Leisnig? Wo liegt das denn?“
K2: „Hinter Leipzig. Sie nennen die Kirchenordnung übrigens Kastenordnung, weil sie sich eine große Truhe angeschafft haben, in der sie das Geld und die Spenden der Gemeinde sammeln. Und daraus werden die Bedürftigen unterstützt“.
K1: „Und das funktioniert? Geben denn die Menschen etwas, wenn sie sich damit nicht mehr ihre Seligkeit erkaufen müssen?“
K2: „Geben gehört zum Glauben dazu, aber nicht wegen der Seligkeit, sondern wegen der Dankbarkeit! Wenn es mir gut geht, dann kann ich doch dafür dankbar sein. Und meine Dankbarkeit kann ich doch zeigen, indem ich denen helfe, denen es nicht so gut geht.
Aber diese Unterstützung der Bedürftigen ist in Leisnig nicht das einzige. Sie haben sich vorgenommen dafür zu sorgen, dass es möglichst keine Bedürftigen gibt. Sie haben eine Schule eigerichtet, damit die Kinder etwas lernen und ihre Fähigkeiten ausbilden können. Wer kann, soll für seinen Lebensunterhalt auch arbeiten. Nur wer wirklich in Not ist und sich selbst nicht helfen kann bekommt Unterstützung“.
K1: „Eigentlich doch ein gutes und christliches Prinzip. Lass uns am nächsten Sonntag in der Sitzuung des Kirchenvorstandes mal überlegen, ob wir nicht auch hier bei uns so einen Kasten und eine Ordnung bekommen können“.

Wir Menschen sind nun mal so, dass wir uns gewöhnlich den bequemsten Weg aussuchen.
Wenn man für sein Heil nichts tun muss, dann tut man eben auch nichts mehr.
Zum Glück wurde ja mit der Reformation auch die Bibel neu entdeckt und damit auch Geschichten, wie die vom barmherzigen Samariter, oder solche Jesus Worte wie das von dem geringsten meiner Geschwister, oder auch Hinweise der Apostel, wie der über den Umgang von Armen und Reichen in der Gemeinde.
Gottesliebe und Nächstenliebe gehören untrennbar zusammen wie die zwei Seiten einer Medaille.
Deswegen erkannten die Kirchengemeinden recht bald, dass man sich in neuer Weise um die Armen in der Gemeinde kümmern musste.
Viele Gemeinden schafften sich solche Truhen an, in denen das Geld verwahrt wurde.
Und es wurden Regeln aufgestellt, nach denen das Geld eingesetzt werden sollte.
Die Kirchenordnungen entstanden.
In ihnen wird beschrieben, wie das Zusammenleben in der Gemeinde gestaltet werden soll.
Es sind im Grunde genommen auch die ersten Diakonie-Ordnungen gewesen, denn gerade die Fürsorge für die Armen ist dabei ein wichtiger Punkt.
Armut konnte damals schnell über Menschen kommen.
Durch Krankheit, Unfall oder Schicksalsschläge.
So schön das ehemals mit der Würde war, die auch der Bettler als Helfer zum Heil hatte – so richtig wohlfühlen kann man sich als Bettler nicht.
Immer auf das Wohlwollen anderer angewiesen zu sein, ist nicht wirklich spaßig.

Schon früh erkannten die Verantwortlichen, dass Armut auch Ursachen hat, die man bekämpfen kann.
Bildung und Ausbildung stand deswegen hoch im Kurs – er wurden verstärkt Schulen für Jungen und Mädchen einreichtet, damit sie Lesen, Schreiben Rechnen lernen konnten.
Damit sie in die Lage versetzt wurden, dass sie sich ihr tägliches Brot selber verdienen konnten.
Armut war nicht länger etwas Gottgegebenes, dem man sich zu fügen hatte.
Sondern Armut war etwas, das es zu überwinden galt.
Und wenn einer aus seiner eigenen Kraft es nicht schaffte, dann wurde er von der Gemeinschaft dabei unterstützt.
Und das Geld für die Unterstützung wurde in dem Kasten in der Kirche verwahrt.
Wir machen einen weiteren Zeitsprung – diesmal in unsere Gegenwart – ins Jahr 2017.
Heute steht dieser Kasten ungenutzt in der Kirche.
Wie sieht heute die diakonische Arbeit in unseren Gemeinden aus?


Szene 3 - 2017:
Dialog zwischen einer Kirchenvorstehrein (KV) und einer Gottesdienstbesucherin (GB).
Situation: Nach dem Gottesdienst bittet die KV eine GB um eine Spende für die Diakonie am Ausgang der Kirche („Armenopfer“).
KV: Möchten Sie für die Diakonie spenden?
GB: Ich frage mich schon lange, wofür Sie diese Spenden eigentlich brauchen?!
KV: Wir unterstützen damit notleidende Menschen in unserer Gemeinde und beteiligen uns am Diakoniefonds unseres Kirchenkreisverbandes.
GB: Gibt es bei uns denn noch wirklich Notleidende? Ich kenne eigentlich keine – höchstens in der Fußgängerzone sitzen immer mal Menschen und bitten um Geld.
KV: Das sind oft Menschen, (die nicht unbedingt im Gottesdienst anzutreffen sind oder) denen man das nicht ansieht. Viele Menschen schämen sich ihrer Armut oder tragen ihre Probleme nicht vor sich her. Manche vertrauen sich aber dem Pastor an oder sie gehen zur Diakonie in eine Beratungsstelle.
GB: Wie kann das sein? Wir leben doch hier in Deutschland in einem Sozialstaat mit allen möglichen Absicherungen, es gibt Sozialversicherungen, Sozialhilfe und zig Ämter. Das ist doch jetzt anders als damals zu Luthers Zeiten oder in der Dritten Welt!
KV: Sicherlich hat sich gegenüber der Vergangenheit oder anderen Ländern in Deutschland viel getan.
Wir haben wirklich viele Hilfen, die gesetzlich geregelt sind. Da sind, wie Sie richtig sagen, „zig  Ämter“ zuständig: Sozialamt, Arbeitsamt, Familienkasse, Versorgungsamt, Jobcenter, unser Gesundheitssystem… Wer sich noch nie damit befasst hat, weiß nicht was es für Leistungen gibt und wie und wo man sie bekommt. Darüber z.B. informieren manche unserer Beratungsstellen.
KB: Was sind das denn für Anliegen, mit denen Menschen in die Beratung kommen?
KV: In Krisensituationen, wenn jemand z.B. in der Familie oder in der Beziehung Probleme hat oder am Arbeitsplatz oder nach einem Schicksalsschlag nicht weiter weiß, wohin er sich wenden kann. Vielleicht kennen Sie das ja auch?
GB: Kann ich mir schon vorstellen…
KV: Ein anderes Beispiel: für viele Familien ist es eine große Herausforderung, aus geringem Einkommen ihre Kinder mit dem notwendigen Schulbedarf auszustatten oder gar Freizeitaktivitäten zu finanzieren. Menschen, die Sozialleistungen bekommen, Rentner, Geringverdiener, Leiharbeiter, Aufstocker haben oft für solche Aufwendungen nicht das Geld.
GB:  Das ist ja wirklich sinnvoll zu unterstützen.
KV: Ja, auch dafür setzt Diakonie sich sozialpolitisch ein, dass die Gesetze entsprechend geändert werden. Und unterstützt praktisch und unbürokratisch in Notlagen.
GB: Das (wusste ich gar nicht.) finde ich aber gut, vielen Dank! (Und spendet was)

Liebe Gemeinde!
Wir sammeln nichts mehr in den alten Kasten in dieser Kirche – aber trotzdem ist es gut, dass er weiterhin in dieser Kirche steht.
Gut sichtbar.
Nicht als ein Relikt aus längst vergangener Zeit, sondern als Erinnerung daran, dass es eine gute Tradition in unserem christlichen Glauben ist, dass wir miteinander leben und füreinander einstehen.
Armut ist nicht gottgegeben – deswegen ist es richtig, alles daran zu setzen, sie zu überwinden.
Arme sind nicht gottverlassen – aber das merken sie nur, wenn Menschen sich dazu bewegen lassen, ihnen zu helfen.

Vieles von dem, was in der Reformationszeit an sozialen Erneuerungen stattgefunden hat, prägt auch heute noch unsere moderne Gesellschaft.
In der Reformationszeit haben die Kirchengemeinden erkannt, dass Christen eine Verantwortung für das Gemeinwesen haben.
Gemeinwesen ist das Zusammenleben aller Menschen an einem Ort – in einem Dorf, einer Stadt, einem Stadtteil.
Heute hat grundsätzlich der Staat diese Verantwortung übernommen.
Aber allein kann er ihr nicht wirklich gerecht werden.
Damit ein Gemeinwesen gut gestaltet wird, braucht es das Engagement vieler Menschen und Institutionen.
Nehmen wir Bockenem als Beispiel:
Im DRK Altenheim wird sich um die betagten Seniorinnen und Senioren gekümmert.
Wenn Menschen zu Hause gepflegt werden müssen, gibt es Hilfe durch die Diakoniestation.
Wer in Not gerät, findet Hilfe und Beratung in der Kirchenkreissozialarbeit in der Bgm Sander Straße.
In der MIA werden Hilfen durch Ehrenamtliche vermittelt.
In der Flüchtlingssozialarbeit werden die unterstützt, die die Not in anderen Ländern zu uns gebracht hat.
Bei der AWO finden Menschen mit einer Krebserkrankung einen Ort, an dem sie sich gegenseitig stützen können.
Und nicht zu vergessen die Feuerwehr, die letztlich in der Wassernot so viele Keller ausgepumpt hat.
Für das Gemeinwesen übernehmen heute viele Verantwortung – und das ist auch gut so.
Es ist eine bunte und vielfältige Arbeit die dafür sorgt, dass alle hier am Ort möglichst gut leben können.
Dieser Kasten diente einmal dazu, Not zu lindern und Menschen zu helfen.
Aus ihrem Glauben an einen barmherzigen Gott haben Menschen dort Geld hineingelegt, damit Barmherzigkeit geschehen kann.
Es ist gut, dass dieser Kasten auch heute noch in der Kirche steht.
Denn er erinnert uns an den barmherzigen Gott, der in uns die Barmherzigkeit wachruft.
Amen.